Originaltitel: Freaks Out__Herstellungsland: Belgien, Italien__Erscheinungsjahr: 2021__Regie: Gabriele Mainetti__Darsteller: Aurora Giovinazzo, Franz Rogowski, Claudio Santamaria, Elia Pietschmann, Pietro Castellitto, Giancarlo Martini, Pietro Castellitto, Giorgio Tirabassi, Emilio De Marchi u.a. |

Superheldenthemen im Setting des Zweiten Weltkrieges: „Freaks Out“.
2015 erregte der italienische Regisseur Gabriele Mainetti mit seinem rohen, schroffen und ungeschliffenen, trotzdem erstaunlich berührenden Superheldenfilm „Sie nannten ihn Jeeg Robot“ Aufsehen. Sechs Jahre ließ sich Mainetti für seinen nächsten Film Zeit. Und wieder handelt es sich um einen eher ungewöhnlichen Superheldenfilm.
Israel ist der Chef eines kleinen Wanderzirkusses. Dieser zieht während des Zweiten Weltkrieges durch Italien, immer in der Hoffnung, hier und da ein Lächeln auf das Gesicht der Kinder und ein Staunen ins Gesicht der Eltern zu zaubern. Die vier Schausteller des Zirkusses, die zugleich wie eine Familie für Israel sind, verfügen über ungewöhnliche Fähigkeiten.
Fulvio ist ein Wolfsmensch, gesegnet mit gewaltiger Muskelkraft. Mario ist zwar klein von Statur, kann als menschlicher Magnet aber das Metall in seiner Umgebung beeinflussen. Und der Albino Cencio kann ganze Heerscharen von Insekten befehligen. Doch gegen die Kräfte von Matilde stinken die drei Männer mit ihren Fähigkeiten ab. Die junge Frau ist aus sich heraus elektrisch. Je nach Stimmungslage können dabei tödliche Mengen an Elektrizität freigesetzt werden.
Eines Tages werfen Bomber ihre tödliche Fracht genau bei einer Vorstellung von Israel und Co. ab. Tod und Chaos sind die Folge. Die Schausteller überleben zwar, doch Israel hat die Nase voll von dem schier nicht enden wollenden Krieg. Er will mit seiner „Familie“ in die USA flüchten. Alles was es dafür braucht, sind ein paar gefälschte Pässe. Gemeinsam kratzt man alles Geld zusammen und Israel verspricht, sich um die Papiere zu kümmern.
Als er lange nicht zurückkehrt, ahnen Matilde, Cencio, Mario und Fulvio, dass mit ihrem Freund etwas nicht stimmt. Sie brechen auf, um ihn zu suchen. Auf ihrer Wanderschaft zerstreiten sich die vier allerdings. Während Matilde weiterhin nach Israel suchen will und dabei italienischen Widerstandskämpfern begegnet, die sie aufnehmen und sich um sie kümmern, wollen die drei Männer bei dem Zirkus Berlin anheuern.
Dieser gehört dem fanatischen Nazi Franz. Seines Zeichens ebenfalls ein „Freak“, hat er doch sechs Finger, dank derer er ein virtuoser Klavierspieler ist. Mehr noch: Franz hat Visionen von der Zukunft. Er weiß daher, wie das Dritte Reich enden wird. Das will er um jeden Preis verhindern, indem er mit seinem Zirkus besondere Menschen anlockt und hofft, unter ihnen „Superwaffen“ für den Führer zu finden.
Als er zunächst Mario, Cencio und Fulvio in die Finger bekommt, wähnt er sich bereits auf dem richtigen Wege. Doch dann taucht auch noch Matilde in seinem Zirkus auf und er weiß sofort, dass er mit der elektrisierenden jungen Dame einen echten Gamechanger in den Händen hat.
Ein etwas anderer Superheldenfilm aus Italien
„Freaks Out“ beginnt mit einer Zirkusvorstellung, in deren Verlauf die Fähigkeiten der Protagonisten kurz und prägnant vorgestellt werden. Was hier noch ungewiss ist: Haben die Charaktere diese besonderen Fähigkeiten wirklich oder sind sie nur Taschenspielertricks? Bevor die Frage beantwortet werden kann, knallt die Realität in diese Parallelwelt voller eigentümlicher „Freaks“.
Ein Bombenteppich zerreißt das Zelt. Die Kamera taumelt ins Freie, Väter tragen ihre schwer verletzten Kinder an ihr vorbei, auf dem Boden liegen zahllose tote Menschen und Explosionen schleudern andere herum. Es ist ein harter Cut und ein ebensolcher Kontrast zu der fragil schönen Zirkusvorstellung. Und genau das wird den weiteren Verlauf des Filmes ausmachen.

Der fahrende Zirkus von Israel
Denn „Freaks Out“ ist unberechenbar und unvorhersehbar. „Mad Circus“ trifft „Pans Labyrinth“ trifft die „Inglourious Basterds“. Kriegsfilm trifft Superheldenfilm. Grotesk komische Momente treffen auf brachial brutale Kriegsgewalt. Allmachtsfantasien treffen auf Familienbindungen. Beklemmende Momente um in Zügen abtransportierte Juden treffen auf schwerelos durch die Luft schwebende Helden.
In dem berauschend schön fotografierten Film ist alles möglich. Auch heftigste Anachronismen: Etwa wenn der seherisch begabte Franz den Radiohead-Song „Creep“ oder Guns N Roses „Sweet Child of Mine“ wunderbar auf seinem Klavier neu interpretiert – 1943 wohlgemerkt! Allgemein ist Nazi Franz ein absoluter Clou des Filmes. In seinem Quartier findet man Malereien von Handys und Playstation-Controllern, was andeutet, wie weit er in die Zukunft sehen kann.

Matilde beherrscht die Elektrizität.
Zudem wird er von dem deutschen Darsteller Franz Rogowski mit einer Energie verkörpert, die den Charakter zwischen von Ehrgeiz zerfressen, gebrochen und ultragefährlich hin und herschwanken lässt. Er stiehlt all seine Szenen und es gibt da ein paar intensive Momente, die noch weit über den Film hinaus nach hallen. Vor allem eine unfassbar intensive Montage um eine der Visionen von Franz sei dabei in ihrer wahnsinnigen Inszenierung erwähnt – bei der sitzen Bild und Ton wahrlich auf dem Punkt.
Entsprechend grandiose Bild-Ton-Collagen schafft Mainetti noch einige in seinem Film. Diese gelingen ihm nicht nur scheinbar mühelos, sie sind auch immer auf ihre jeweilige Weise besondere Höhepunkte im Film. Der nimmt sich für Wolfsmenschen-Sex oder eine absolut groteske Kriegsversehrtenkampfeinheit genauso viel Zeit wie für seine Figuren, die einem rundweg ans Herz wachsen. Vor allem die fragile Matilde, die von Aurora Giovinazzo durchaus auch mal sperriger angelegt wird, wird schnell zum emotionalen Zentrum der Story.

Nazi Franz sucht nach Superwaffen für den Führer.
Selbige steuert auf teils unvorhersehbaren Wegen auf einen gewaltigen Showdown zu, in dem es richtig krachen darf. Hier dreht die früh im Film etablierte, harte Gewalt noch einmal munter hoch. Flankiert von Momenten, in denen Mario Waffen durch die Gegend zischen lässt oder der Wolfsmensch Gewehrläufe verbiegt. Man ist in dem Moment aber bereits so von der Welt aufgesaugt, dass einem derartig groteske Momente ebenso wenig stören, wie Franz‘ seltsame Handfeuerwaffe oder sein clowneskes Herumgehampel.
Das Szenario hat Wucht, bietet ordentlich Budenzauber und mündet in ein beeindruckend getrickstes Finale. Doch „Freaks Out“ funktioniert nicht nur im Großen, er hat auch viel Sinn für kleine Details. Wenn hier Franz seine Vorstellungen abhält, regnet es Hakenkreuzkonfetti. Die Luftballons für die Kleinen sind mit SS-Runen gebrandet. Und ein Mann, der in die Zukunft blicken kann, der kann freilich auch zur Zeit des Zweiten Weltkrieges mit dem Moonwalk überraschen. Kurzum: Egal, wohin man auch schaut, in „Freaks Out“ gibt es in etwas zu langen 140 Minuten viel zu entdecken.
„Freaks Out“ ist ein kleines Wunder
Wem die aktuellen Superheldenfilme zu glatt, zu vorhersehbar, zu ewig gleich vorkommen, dem sei „Freaks Out“ unbedingt empfohlen. Der Film von Gabriele Mainetti fühlt sich wunderbar frisch, überraschend, inspiriert, spinnert und eigenwillig an. Fantastische Darsteller ziehen unversehens in die atmosphärisch dichte, traumhaft schön inszenierte Welt hinein, in der alles möglich zu sein scheint. Der teils sehr grimmige Humor sitzt, die Action hat Wucht und fährt hübsche Ideen auf und auch die emotionalen Momente verfangen und berühren. Mit seinem erst zweiten Spielfilm empfiehlt sich Gabriele Mainetti endgültig als eigensinniger Künstler, den man im Auge behalten sollte. Man kann nur hoffen, dass nicht wieder sechs Jahre bis zu seinem nächsten Film vergehen.
Die deutsche DVD / Blu-ray zum Film erscheint am 23. Juni 2023 von Square One im Vertrieb von LEONINE und ist mit einer Freigabe ab 16 ungeschnitten. Die Datenträger haben Deleted Scenes, Outtakes und ein interessantes Making Of im Gepäck. Freilich kann man den Film auch streamen.
In diesem Sinne:
freeman
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