Originaltitel: Humane__Herstellungsland: Kanada__Erscheinungsjahr: 2024__Regie: Caitlin Cronenberg__Darsteller: Jay Baruchel, Emily Hampshire, Peter Gallagher, Enrico Colantoni, Sebastian Chacon, Alanna Bale, Sirena Gulamgaus, Uni Park, Martin Roach, Franckie Francois, Joel Gagne, Blessing Adedijo, Natalia Gracious, Yanna McIntosh, Tara Spencer-Nairn, Eadie Murphy u.a. |

Das Poster von „Humane“.
Von Menschen und Menschlichkeit
„Humane“. Ein wunderbar vielschichtiger, anregend mehrdeutiger, in letzter Instanz vielleicht auch widersprüchlicher Begriff, hier in Gestalt eines Filmtitels. Voller assoziativer Freiheit steht er da und bezeichnet das Regiedebüt von Caitlin Cronenberg, die somit in die Fußstapfen ihres Vaters David und ihres Bruders Brandon tritt. Im Hause Cronenberg ausgesprochen, gewinnt der Begriff umgehend an Kontext und verliert somit an Ambiguität. Zumindest seine gebräuchliche Verwendung im Sinne eines „Strebens nach dem moralischen Idealzustand des menschlichen Daseins“, das sich aufrichtig in Güte und Barmherzigkeit übt, ist im Zusammenhang mit dem vorbelasteten Familiennamen praktisch ausgeschlossen. „Humane“ muss nunmehr allgemeiner, wertungsfreier verstanden werden, als eine nüchterne Beschreibung des Menschlichen, wie auch immer diese moralisch zu bewerten ist. Und wenn doch eine Spur von Wertung mit einfließt, dann dahingehend, das Humane als etwas Irreführendes zu interpretieren, hinter dem etwas ganz anderes verborgen liegt.
Schlicht in der Form und überwältigend in der Implikation ist aber nicht nur der Filmtitel, sondern auch die Prämisse. Wir schreiben die nahe Zukunft, eine Umweltkatastrophe jagt die nächste, und die Menschheit hat sich endlich zu der Erkenntnis durchgerungen, dass sie das eigentliche Problem auf diesem Planeten darstellt. Der Auftrag: Binnen eines Jahres soll die Weltbevölkerung um 20 Prozent reduziert werden. In anderen Worten: Jeder fünfte Mensch muss weg.
Es ist ein Wachmacher, dessen Knall die Regisseurin mit einem betont nüchternen Aufbau zu zähmen versucht. Was die Grundstimmung angeht, findet man sich am ehesten im Spätwerk des Vaters wieder, irgendwo in der Klammer zwischen „Eine dunkle Begierde“ (2011) und „Maps to the Stars“ (2014). Wenig zeigen, viel andeuten, lautet die Devise. Dass hier keine Kriegsschauplätze der Marke „Civil War“ (Alex Garland, 2024) aufgefahren werden, hat sicherlich auch etwas mit dem vermutlich nicht allzu hohen Budget einer Debütantin zu tun, die einen nicht allzu leicht in Genre-Zäune zu bannenden Zwitter zwischen Science Fiction, Thriller und Horror vorlegt.
Es ist aber eben auch ein Stück weit der genetische Abdruck der Cronenbergs, den Caitlin ja bereits in ihrer unterkühlten Star- und Aktfotografie unter Beweis stellte, ebenso wie in zwei Kurzfilmen, darunter demjenigen über den hypothetischen Tod ihres Vaters („The Death of David Cronenberg“, 2021). Eine trügerische Ruhe macht sich breit, aus der jede Anomalie herausragt wie ein neonfarbenes Ausrufezeichen. Die Kamera gleitet langsam über sterile Fassaden hinweg, während darunter die Materie zu köcheln beginnt und sich vorbereitet, an die Oberfläche zu sickern.
Familienbande
Die Inhalte werden zunächst über Experten aus TV-Sendungen transportiert. Sie sind gespickt mit Andeutungen, weil es zu grauenhaft wäre, die Konsequenzen der gestellten Thesen beim Namen zu nennen. Ein Verständnis für die globale Lage breitet sich beim Zuschauer aus wie eine Dunstwolke, das mitschwingende Chaos aus der Ferne steht im krassen Gegensatz zur Idylle des privilegierten Viertels, in dem sich das Haus der Familie York befindet, auf deren Schicksal sich die Handlung konzentrieren wird. Der Patriarch, Charles York (Peter Gallagher), versammelt seine vier Kinder um sich, die von ihm und überwiegend auch voneinander längst entfremdet sind. Während die Stiefmutter und ehemalige Sterneköchin Dawn (Uni Park) für ihre Gäste Gang um Gang aufträgt, versammelt sich um den Esstisch ein dysfunktionales Konstrukt, das in vielerlei Hinsicht das Erbe des Usher-Clans aus Mike Flanagans „Der Untergang des Hauses Usher“ (2023) weiterträgt.
„Humane“ trägt mit vielen Ideen schwanger und wird im weiteren Verlauf versuchen, die Zäune der eingangs erwähnten Genres zu scannen und in Teilen zu versetzen, aber sein zentrales Anliegen ist womöglich die Demontage des rücksichtslosen Individualismus, der gerade im Zeitalter der Digitalisierung pervertierte Ausformungen erlebt hat. Es geht um die kompromisslose Durchsetzung egoistischer Motive, mit dem Risiko, die unmittelbare Umgebung dabei zu zerstören. Das familiäre Modell, zusammengesetzt aus Einzelkämpfern, eignet sich hier durchaus als Allegorie auf die Völker der Welt, ihre Leitfiguren und die Interessen, die sie gegenüber anderen Völkern behaupten, wenn nötig auch zum Nachteil der Welt, die sie untereinander aufteilen.
Von der Gesellschaftsdystopie zum Home-Invasion-Thriller
Während der öffentliche Raum in Fernsehen und sozialen Medien um Würde ringt, indem er versucht, den Anschein des Zivilisierten zu wahren, arbeitet sich „Humane“ schließlich zu seinem rohen Kern vor. Mit Sterbehelfer Bob wird ein Antagonist im Stil eines sadistischen Geiselnehmers eingeführt, der pikanterweise das Gesundheitssystem und die Regierung gleichermaßen repräsentiert und dabei scharfe Bezüge zu den exekutiven Kräften heraufbeschwört, wie sie in vielen Aufarbeitungen des Nationalsozialismus zu sehen waren.
Mit seinem flapsigen bis zynischen Management der Situation strahlt immer auch wieder der gesellschaftliche Subtext hindurch, der im ersten Akt mit dezenten Mitteln etabliert wird. Aber trotz der subtil verpackten Dialoge und des herrlich maskenhaften Schauspiels von Enrico Colantoni wird seine Figur letztlich durch ihr mechanisches, prognostizierbares Handeln in die Schablone eines Psychothrillers gezwängt. Was eine offene Beobachtung zum Status Quo der Menschheit zu werden schien, zieht sich nun in das Schneckenhaus eines Kammerspiels zurück, in dem normale Menschen der Willkür eines Einzelnen ausgesetzt sind und in dieser Extremsituation zu extremem Handeln gezwungen werden.
Caitlin Cronenberg gibt die weiterführenden Denkanstöße ihrer Arbeit nie völlig auf, weil sie doch immer wieder feine Nuancen anstimmt, um den Horror hinter dem Gedanken einer radikalen Bestandsregulierung aufblühen zu lassen, den eine intelligente Spezies unter Umständen an ihrer eigenen Art zu vollziehen bereit sein könnte. Schon die jeweiligen Berufe der vier Kinder, Anthropologie (Jay Baruchel), Pharmazeutik (Emily Hampshire), Schauspiel (Alanna Bale) und Musik (Sebastian Chacon) kollidieren immer wieder miteinander und lassen den Menschen als schöpfendes Wesen zwischen Kunst und Wissenschaft an seinen eigenen Widersprüchen scheitern.
Trotzdem droht die stumpfe Genre-Mechanik zur Mitte hin jegliche Multiperspektivität niederzumähen. Das Drehbuch findet sich bald in einer Spirale aus Argwohn, List und Täuschung wieder, die ganz im Affekt aufgeht und dann nichts Philosophisches mehr an sich hat, abgesehen von der Philosophie des Überlebens im engsten Sinne. Xenophobie bricht nach außen, Familienbande zerreißen, Messer versinken in Körpern und Hände legen sich um Hälse. Man wähnt sich fast in einem Home-Invasion-Streifen, in dem Zimmer für Zimmer gesäubert wird, mit der entscheidenden Ausnahme, dass die besondere Konstellation dieses Films es verbietet, dass alle Figuren nacheinander sterben, bis nur noch eine Person übrig ist, da in dieser Auslosung explizit nur eine weitere Leiche gesucht wird.
Was diese Sorte Film angeht, bietet „Humane“ also in gewisser Weise sogar eine neue Perspektive, zumal am Ende eben nicht alle Unsympathen über den Jordan gegangen sein können, weil es derer schlichtweg zu viele in der Bewerbung um die Position als Leiche des Tages gibt. Insbesondere Jay Baruchel, dank „Cosmopolis“ (2012) bereits zu Gast in einem Cronenberg gewesen, würde man die Stelle gönnen, erkundet der Spezialist für Komödien aller Art doch als personifiziertes Gegenteil des Filmtitels die Abgründe des Humanismus wie ein Vollprofi, obgleich der ein oder andere Charakter im Lauf der 90 Minuten noch überraschendere Wendungen an den Tag legt, wie um zu beweisen, dass Arschlöcher nicht nur diejenigen sind, die sich als solche ausgeben, sondern alle anderen im gleichen Maße.
Humane: Gute Ansätze mit Luft nach oben
Mit Blick auf das Potenzial der Prämisse ist diese Versteifung auf die Topoi des Thriller-Kinos im Abgang ein wenig bedauerlich, zumal das Fundament der filminhärenten Logik nicht immer ganz sattelfest dasteht und manche Frage offen lässt. Dennoch gelingt Caitlin Cronenberg gleich mit ihrem ersten Spielfilm ein künstlerischer Achtungserfolg, der spürbar im Geiste ihre Blutsverwandten steht; und das nicht nur, weil Blutsverwandtschaft in der Handlung eine wichtige Rolle spielt. „Humane“ ist ein klein skalierter, aber stimmungsvoll inszenierter sowie äußerst klug besetzter dystopischer Entwurf, der sich zur Mitte hin zwar etwas zu sehr in Replikationen seiner Genre-Anleihen verliert, darüber aber nie seine starke Grundidee aus den Augen verliert – bis hin zur perfiden letzten Note, die das Problem mit der Begrifflichkeit des Humanitären noch einmal auf den Punkt bringt.
„Humane“ lief in den USA im April 2024 kurzzeitig in den amerikanischen Kinos, spielte dort aber nur wenig ein. Drei Monate später startete der Film beim US-Streaming-Dienst Shudder. In Deutschland ist er seit Februar 2025 im Programm von Paramount+ enthalten und kann inzwischen auch bei anderen VoD-Plattformen gestreamt werden.
Sascha Ganser (Vince)
Was hältst du von dem Film?
Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love
Copyright aller Filmbilder und Screenshots/Label: Paramount+__FSK Freigabe: ab 16__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Nein / Nein |