Originaltitel: John Wick: Chapter 4__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 2023__Regie: Chad Stahelski__Darsteller: Keanu Reeves, Donnie Yen, Bill Skarsgård, Laurence Fishburne, Hiroyuki Sanada, Shamier Anderson, Lance Reddick, Rina Sawayama, Scott Adkins, Ian McShane, Marko Zaror u.a. |
Wir waren für euch bei der Deutschlandpremiere von „John Wick: Kapitel 4“ live vor Ort und haben einen kleinen Bericht, einige Bilder und Videofetzen von dem Event mitgebracht. Unser Einblick in die Premiere eröffnet unsere ausführliche Kritik zum vierten Eintrag ins Superkiller-Franchise, in dem Keanu Reeves gegen Donnie Yen, Scott Adkins und Marko Zaror ankicken muss.
Video: Kritik zu „John Wick: Kapitel 4“ und ein Bericht von der Deutschlandpremiere
Keanu Reeves und sein neues Actionepos

Keanu Reeves kickt in „John Wick: Kapitel 4“ Donnie Yen, Scott Adkins und Marko Zaror.
Als John Wick merkte, dass die gegen ihn ausgesprochene Exkommunikation sein (Über-)Leben extrem verkomplizierte, wandte er sich in „John Wick: Kapitel 3“ an den Ältesten der Hohen Kammer. Der versprach ihm, die Exkommunikation aufzuheben, wenn John Wick ihm seinen Ehering überlassen würde. Wie wir unseren John Wick kennen und lieben, will der diesen Ring NATÜRLICH zurückhaben.
Infolgedessen erleben wir ihn zu Beginn von „John Wick: Kapitel 4“ hoch zu Ross in einer Wüste hinter den berittenen Männern des Ältesten herjagen. Am Ende der Verfolgungsjagd steht er vor seinem Ziel. Doch das entpuppt sich als neuer Ältester. Der Vorgänger sei verschieden und Wicks Ehering im Zuge dessen verschwunden. Wutentbrannt ballert Wick den Ältesten über den Haufen.
Eine Respektlosigkeit, die die Hohe Kammer nicht zu akzeptieren bereit ist. Sie entsendet einen Handlanger und stattet ihn mit aller Macht und endlosen finanziellen Mitteln aus, um sich Wicks letzte Freunde und dann Wick selbst zur Brust zu nehmen. Der Marquis genannte, ehrgeizige Emporkömmling lässt infolgedessen Winstons Continental in New York sprengen und ihm wichtige Vertrauenspersonen meucheln.
John Wick flieht derweil gen Osaka. Damit bringt er den Betreiber des dortigen Continentials in gewaltige Schwierigkeiten. Das lässt ihn umdenken. Er spürt, dass er sich mit seinem bisherigen Vorgehen, einfach alles und jeden zu töten, in eine Sackgasse manövriert hat. Die Hohe Kammer ist offenkundig viel zu mächtig. Wie zum Beweis dreht die sogar Caine um. Ein Mann, den Wick bislang immer als eine Art Freund betrachtete.
John macht sich darum die altehrwürdigen Regeln der Organisation zunutze. Er will den Marquis zu einem Duell herausfordern und an den Ausgang sein weiteres Schicksal knüpfen. Dazu muss er sich aber zunächst mit seiner Vergangenheit aussöhnen.
Schaut in den Actionfilm hinein
„John Wick: Kapitel 4“ haut amtlich rein
Wenn man sein Publikum 170 Minuten lang bei der Stange zu halten vermag, ohne es auch nur für einen Moment zu langweilen, hat man definitiv etwas richtig gemacht. Klar, die Handlung von „John Wick: Kapitel 4“ ist mit dünn noch nett umschrieben und viele Charaktere bleiben egales Kanonenfutter. Aber die Story ist so zugleich auch wirklich effektiv auf das Nötigste beschränkt und verursacht keinerlei Längen oder Leerlauf.
„John Wick: Kapitel 4“ bleibt in Optik und Inszenierung dem „Style over Substance“-Prinzip der Franchise in jeder Einstellung treu. Wer also schon mit Teil 2 und erst recht mit Teil 3 nicht zurecht kam, für den wird der vierte Anlauf keine Wende bringen. Auch nicht was die comiceske Umsetzung der Action angeht. Wer damit jedoch keinerlei Probleme hat, der wird von „John Wick 4“ einfach nur genial bedient.
Denn wenn Actiongenius Chad Stahelski in Osaka, Berlin und Paris mit Hilfe von Könnern wie Donnie Yen („Ip Man“), Scott Adkins („Accident Man“) und Marko Zaror („Redeemer“) aufdreht und diese gegen seinen souveränen Star Keanu Reeves („Matrix Resurrections“) antreten lässt, bleibt wahrlich kein Stein auf dem anderen. Die Action von John Wick hat auch im vierten Anlauf irre Wucht, ein fantastisches Waffenhandling, geniale Choreografien und nie gesehene Ideen.
Immer wieder erwischt man sich dabei, dass man als Zuschauer ungläubig mit dem Kopf schüttelt ob des Gesehenen. Das eben nicht mit CGIs und Schnitten gepimpt werden muss, um geil auszusehen. Ganz im Gegenteil: Die Action wird in dem Film so optisch genial eingefangen, dass man sich gar nicht an ihr sattsehen kann. Und was Reeves, Stahelski, Zaror und Yen alleine in Paris, der Stadt der Hiebe, veranstalten, ist einfach nur übergroßes Actionkino – das in einen Western-Showdown mit entsprechenden optischen und musikalischen Stilmitteln mündet. Ein echtes Actionfrontalbrett!
In diesem Sinne:
freeman
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Die „John Wick“-Reihe bildet inhaltlich, aber auch personell eine sehr geschlossene Einheit, weshalb es bei „John Wick: Kapitel 4“ nur einen größeren Umbruch gibt: Derek Kolstad („The Package“), der Originalautor, steuerte erstmals nicht das Script bei. Stattdessen fungieren Shay Hatten („Army of the Dead“) – der bereits an „John Wick: Kapitel 3“ mitschrieb – und Michael Finch („American Assassin“) als Drehbuchautoren des Actionsequels.
Wie schon seine Vorgänger schließt auch der vierte Teil mehr oder weniger nahtlos an das Ende des vorhergehenden Teils an. John Wick (Keanu Reeves) hat die Schüsse von Winston (Ian McShane) und den Sturz vom Dach des Continental in New York verkraftet und bringt sich durch Training wieder auf die Beine, unterstützt vom König der Bettler (Laurence Fishburne). Die Hohe Kammer ist derweil auch nicht untätig, denn sie will an John ein Exempel statuieren: Niemand entkommt den Verpflichtungen der Kammer gegenüber und kann sich über die Regeln hinwegsetzen. Um besonders effektiv arbeiten zu können, stattet die Hohe Kammer den Marquis de Gramont (Bill Skarsgård) aus Frankreich mit allen nötigen Privilegien aus – die sonst eher gesichtslose Entität erhält damit schon früh im Film ein Antlitz, und ein sehr arrogantes, hassenswertes dazu.
Der Marquis macht allerdings auch keine halben Sachen, denn er will nicht nur John töten, sondern auch das, was er repräsentiert. Zu diesem Zweck müssen auch all jene leiden, die John auch nur in der kleinsten Weise unterstützt haben – dementsprechend muss man schon früh im Film von gleich zwei „John Wick“-Institutionen Abschied nehmen. Mit ähnlicher Skrupellosigkeit rekrutiert der Marquis auch Caine (Donnie Yen), einen früheren Freund und Weggefährten Johns. Der blinde Profikiller hat das Geschäft eigentlich verlassen, ähnlich wie John, doch der Marquis zwingt ihn zu einem weiteren Auftrag, indem er an Caines wundem Punkt ansetzt – dessen Tochter.
John ist allerdings ebenso wenig bereit aufzugeben wie die Hohe Kammer. Während der Abtrünnige weiter um sein Leben kämpfen muss, erhält er Hilfe von unerwarteter Seite – und einen möglichen Ausweg, um seine Exkommunikation rückgängig zu machen…
Ein „John Wick“-Film mit einer Länge von drei Stunden – kann das funktionieren? Die Antwort lautet: Ja. Im Gegensatz zu manch anderem Überlängefilm der letzten Zeit (z.B. „Everything Everywhere All at Once“ oder „Black Panther: Wakanda Forever“) kann „John Wick: Kapitel 4“ durchweg Hänger vermeiden und in seinem Flow bleiben. Das ist umso bemerkenswerter dadurch, dass die Story nicht komplexer als in den Vorgängern ausfällt, den mythologischen Unterbau im Vergleich zum dritten Teil wieder etwas entschlackt. John erfährt von einer ihm bisher unerkannten Regel, die ihn vom seinem Los befreien könnte, muss dafür eine Prüfung bestehen und zwischenzeitlich am Leben bleiben, ehe er sich im Finale auf jene Regel berufen kann. Doch „John Wick: Kapitel 4“ macht kein Geheimnis aus seinem eher simplen Unterbau, sondern betont (ähnlich wie die beiden direkten Vorgänger) die Nähe zu anderen Kunstformen: Vertreter der Unterwelt halten ein Meeting im Louvre ab, der Marquis schaut sich eine Tanzdarbietung an. Mit Blick auf diese wenig bis nicht narrativen Künste betont „John Wick: Kapitel 4“ sein eigentliches Anliegen: Action-Bilder auf die Leinwand malen, in tanzartigen Kampfchoreographien schwelgen.
Genau der Einfallsreichtum in diesen Kategorien hält „John Wick: Kapitel 4“ durchweg frisch. Man lässt den Protagonisten und seine Kontrahenten auf bisher noch nicht genutzte Art aufeinandertreffen: John Wick kämpft reitend zu Pferd, schwingt ein Nunchaku, muss sich gegen Gegner mit Brandgeschossen zur Wehr setzen usw. Genauso einfallsreich ist die Inszenierung, die jeder Actionszene Frische verleiht: Manche Kämpfe finden vor einer hellen Lichtquelle statt, sodass sie wie ein Schattenspiel aussehen, an anderer Stelle verfolgt man eine Actionszene aus einer extremen Draufsicht, aus der Vogelperspektive gewissermaßen. Manche Elemente kennt man aus den Vorgängern (Kämpfe in einer vollbesetzten Disco, Gegner mit Schutzmasken gegen Kopfschüsse, Hunde als Kampfgefährten), doch „John Wick: Kapitel 4“ schafft es dennoch nie wie eine Kopie oder eine einfallslose Fortführung zu wirken.

Der Marquis de Gramont (Bill Skarsgård) nimmt John Wicks Umfeld unter die Lupe, darunter auch Winston (Ian McShane)
Regisseur Chad Stahelski, selbst früherer Stunt Coordinator, und das Fight- und Stuntteam rund um Laurent Demianoff („Gunpowder Milkshake“), Stephen Dunlevy („Uncharted“), Scott Rogers („xXx: The Return of Xander Cage“) und Jeremy Marinas („Gemini Man“) werfen jedenfalls ihr geballtes Können in die Waagschale, wenn sich der Titelheld mit der gewohnten Mischung aus Nahkampftechniken und Gunplay, die fix ineinander übergehen, durch die Horden seiner Gegner pflügt. Hin und wieder ist auch mal eine Verfolgungsjagd dabei, doch meist wird hier gekämpft, egal ob mit Schießprügeln aller Art, mit Messern, Äxten und allem, was die Waffenkammer sonst noch so hergibt, oder mit bloßen Händen – stets famos choreographiert und edel inszeniert, stets übersichtlich und toll ausgeleuchtet. Störend fällt allenfalls auf, dass die Reihe weiter an Bodenhaftung verliert: An gleich zwei Stellen stürzt John mehrere Stockwerke in die Tiefe, schlägt auf dem Boden auf, zeigt zwar Schmerzen, ist aber weiterhin bereit weiterzukämpfen und die nächste Gegnerhorde über den Jordan zu schicken – an diesen Stellen wäre weniger wirklich mehr gewesen.
Gleichzeitig wird die Reihe globaler, denn Wick muss noch mehr aus seinem angestammten New Yorker Kosmos heraus. Jedes der insgesamt drei großen Set Pieces findet an einem anderen Ort statt (hinzu kommen noch ein paar kleinere Actionszenen): Zuerst ist da ein Überlebenskampf in der Filiale des Continental-Hotels in Osaka, später muss John eine Feuerprobe in Berlin stehen, ehe das Finale in Paris stattfindet. Jede dieser drei Szenen ist ausladend und in weitere kleine Untersektionen unterteilbar, etwa wenn John in Paris erst eine „The Warriors“-artige Treibjagd (inklusive Kommentar durch Radio-DJane wie in dem Walter-Hill-Film) überstehen muss, ehe er sich dem letzten Gefecht stellen kann. Doch nicht nur die Schauplätze und die Drehorte sind international, auch die Gaststars und deren Figuren sind es, mit denen „John Wick: Kapitel 4“ jede Menge Lokalkolorit einbringt. So sprechen beim Gefecht in Japan vor allem die Samuraischwerter, Bögen und Messer, weniger die Schusswaffen.
Neben seinen Actionszenen lebt der Film aber auch von seinen phantasievoll gestalteten Figuren. Als da wären der Marquis und seine rechte Hand Chidi (Marko Zaror) als eiskalt-arrogante Schurken; ein sich selbst als Nobody bezeichnender Tracker (Shamier Anderson), der Wick verfolgt, aber erst zuschlagen will, wenn das Kopfgeld hoch genug ist; Shimazu (Hiroyuki Sanada), der auf Ehre und Freundschaft bedachte Chef des Continental in Japan, mit seiner Tochter Akira (Rina Sawayama); Katia (Natalia Tena), die Anführerin der Berlin Ruska-Roma-Sektion, und Killa (Scott Adkins im Fatsuit), den die Hohe Kammer ihr vor die Nase gesetzt hat; ein namenloser Bote (Clancy Brown) der Hohen Kammer; und natürlich Caine. Nachdem Rutger Hauer in „Blinde Wut“ eine US-Version des japanischen Zatoichi-Mythos verkörperte, erscheint Caine als dessen chinesische Variante. Ein blinder Nahkampfexperte mit Vorliebe für Klingenwaffen und einem strengen Ehrenkodex. Und gleichzeitig eine reizvolle Antagonistenfigur, denn weder Caine noch Wick will den anderen eigentlich töten, doch die Situation scheint ihnen keine andere Wahl zu lassen.
Gleichzeitig spiegelt dies auch ein zentrales Motiv der Reihe im Allgemeinen und dieses Films im Speziellen wider. Denn nicht nur die gewohnt phantasievoll designte Unterwelt im Retro-Chic hat ihre Regeln, sondern auch die Killer und Krieger, die sich darin bewegen, haben ihren eigenen Ehrenkodex. Einen Kodex, den sie sogar über ihr Leben und ihre eigene Unversehrtheit stellen – gut zu sehen gegen Ende des ersten Drittels, wenn Caine einem Kontrahenten erklärt, dass dieser nicht gegen ihn kämpfen müsse, dieser jedoch das Duell und damit den sicheren Tod wählt. Auch aus solchen Momenten zieht „John Wick: Kapitel 4“ seine Kraft. Ein weiteres gutes Beispiel ist die Szene, in der John, Caine und Nobody im Nachtclub von Killa auf den Boss treffen – die drei Gäste mögen den schmierigen Russenmafioso mit den Goldzähnen nicht, während Killa, Caine und Nobody alle das Privileg haben möchten Wick zu töten. Geregelt werden soll das Ganze in einer memorablen Sequenz am Kartentisch, ehe die Action startet. Auch gegen Ende ist „John Wick: Kapitel 4“ sehr konsequent: Endeten Teil 2 und 3 jeweils mit einer Art Cliffhanger, so könnte dieser Film das Ende der „John Wick“-Saga darstellen, auch wenn ein fünfter Teil bereits angekündigt ist.
Den titelgebenden Part, der inzwischen zu einer seiner Paraderollen geworden ist, spielt Keanu Reeves („Bill & Ted’s verrückte Reise durch die Zeit“) gewohnt souverän als meist unterkühlten Profi, bei dem gelegentlich Emotionen zum Vorschein kommen. Mit Laurence Fishburne („The Ice Road“), Ian McShane („Hellboy – Call of Darkness“) und Lance Reddick („Godzilla vs. Kong“) sind weitere alte Bekannte dabei, gewohnt gut, aber hier in relativ kleinen Parts unterwegs. Aus dem neuen Personal sticht vor allem Donnie Yen („Raging Fire“) als Auftragsmörder im Zwiespalt heraus, der zwischen Ehre und Zwang gefangen ist. Bill Skarsgård („Es“) macht Laune als überheblicher Fatzke, Marko Zaror („Alita: Battle Angel“) ist dann doch eher körperlich gefragt, kann aber hier und da Charisma als überheblicher Chef-Henchman zeigen. Scott Adkins („Day Shift“) hat sichtlich Spaß an seiner Rolle als selbstgefälliger wie stilloser Mafiaboss und setzt dabei auch außerhalb seiner Actioneinsätze Akzente, während Hiroyuki Sanada („Bullet Train“) mit seiner gewohnt charismatischen Präsenz überzeugt. Shamier Anderson („City of Lies“) ist okay, fällt im Vergleich zum Rest von Cast etwas ab, während Natalia Tena („Game of Thrones“) und Rina Sawayama („Turn Up Charlie“) trotz kleinerer Rollen Akzente zu setzen wissen, ähnlich wie Clancy Brown („Homefront“) als ungerührter Bote der Hohen Kammer.
Obwohl „John Wick: Kapitel 4“ seine Titelfigur gelegentlich etwas zu übermenschlich zeichnet und die Story für eine Laufzeit von drei Stunden wenig komplex ist, kann das Sequel das hohe Niveau der Reihe halten und nur leicht gegenüber seinen Vorgängern abfallen. Dass der Film trotz seiner Länge quasi keine Hänger zu verzeichnen hat, in seine famos choreographierten Actionszenen immer Abwechslung und neue Ideen einbringen kann und seinen starken Cast gewinnbringend einzusetzen weiß, ist eine echte Leistung, die dem Team rund um Regisseur Chad Stahelski und seinen Hauptdarsteller Keanu Reeves, der sich wie gewohnt ins Zeug legt, gelungen ist.
© Nils Bothmann (McClane)
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Was haben die vierten Teile von „Matrix“ und John Wick“ gemeinsam? Das eingespielte Doppel Keanu Reeves / Laurence Fishburne schon mal nicht, leider. Eher schon verbindet sie der Balanceakt an den Rändern einer Simulation stilisierter Realität, entlarvt durch zahllose Glitches, die Löcher in die Illusion reißen. Die tanzenden Menschen im Club, die ob der brutalen Axtkämpfe in ihrer Mitte kurz erschrocken innehalten und sich dann doch wieder wie programmierte NPCs dem Tanzen zuwenden. Die Schurken, die im Kreisverkehr vor dem Arc de Triomphe von den Autos wie Ragdollpuppen in die Luft geschleudert werden – und die Autos, die einfach nicht aufhören wollen, im Kreis zu fahren, ungeachtet der Hindernisse auf der Fahrbahn. Der Stuntman, der so viel Spaß am Treppenpurzeln hat, dass er auch gleich noch die nächste Treppe mitnimmt, obwohl er problemlos auf der Mittelplatte hätte stoppen können. Die vielen neuen Agenten im Spiel, die sich wie digitale Mini-Neos von ihrem Neo-Zentrum ablösen und jeweils Teile seiner Persönlichkeit verkörpern.
Einiges davon deutet vor allem auf inszenatorische oder dramaturgische Schwächen hin, aber all das ist auch Zeichen eines zunehmend ausufernden Exzesses, angetrieben durch die Erfolgsgeschichte der Franchise und den stoischen Trotz ihrer Hauptfigur, die sich einfach weigert zu sterben. Der Sensenmann geht aber nicht leer aus; er wird für jede Minute, die Wick unter den Lebenden wandelt, mit einer unzähligen Menge an fachgerecht filetierten Schurken entlohnt, die an dessen Stelle draufgehen. „John Wick: Kapitel 4“ hat längst seinen emotionalen Kern um den Verlust von Frau und Hund abgestreift und sich in reine Form verwandelt. Bewegung und Kausalität füllen das aus viel Licht und Dunkelheit bestehende Ambiente mit Kreiseln und geraden Linien, bis die glatten Silhouetten in ihre Partikel aufgesprengt werden. Hotel, U-Bahn-Station, Kirche, Club, überhaupt ganz New York, Berlin und Paris… nichts als Achterbahnsimulationen in der Matrix, während die Erinnerung an die Realität im Schummerlicht der Kanalisation zu verblassen droht.
Ballettfreunde jedenfalls kommen in brachialen drei Stunden, gefüllt mit dem beständigen Gleiten durch Widerstand, hundertprozentig auf ihre Kosten. Weniger Film als Performance entfaltet sich da in permanent rotierenden Set Pieces auf der Leinwand, sie führt unter Neonröhren und durch Wasserfälle hindurch und in blendender Symbolik schließlich viele Treppenstufen hinauf zum großen Duell, das wie die ultimative Lösung für das Hydra-Problem mit der Hohen Kammer auf einmal im Raum steht. Ethos und Moral sind, das ist ironisch genug, die treibenden Kräfte dieser Unterwelt-Farce, die es sich auch erlauben kann, Freund- und Feindschaft miteinander zu vermischen wie Ölfarben, einfach weil die Agenten in einer Welt leben, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert.
Kaum mehr müssen da Mühen in Handlung oder World Building investiert werden, denn sämtliche Vorbereitungen wurden bereits in den ersten beiden Fortsetzungen getroffen. Hier ist nun das Spektakel selbst auf dem ausgerollten roten Teppich die Quintessenz, und der Teppich wird nur roter, je länger das Spektakel andauert. W-U-X-I-A buchstabiert sich der Radiosender, der zur finalen Hetzjagd läutet; die Einflüsse aus dem asiatischen Kampfkunstfilm, die schon immer in der Franchise brodelten, haben sich bis dahin längst wie die Blüten eines Kirschbaums zur Frühlingszeit entfaltet. Neben der chinesischen ist es vor allem die japanische Kultur, die der Ästhetik ihren Stempel aufdrückt – auf die Spitze getrieben in einem für amerikanische Verhältnisse würdevollen Kampf zwischen den japanischen und chinesischen Stars Hiroyuki Sanada und Donnie Yen, einem ersten von vielen folgenden Versus-Höhepunkten in diesem Epos der Körperbeherrschung.
Gerade Yen erfüllt weit mehr als die Rolle des Henchman, wie sie sonst für Darsteller seines Kalibers in Hollywood vorgesehen sind. Keanu Reeves muss die Last seiner Hauptrolle bei weitem nicht mehr alleine tragen, seine Co-Stars packen ebenfalls kräftig zu und helfen beim Tragen. Abgesehen von Yen, der mit phänomenal pointierten Einzelkampfaktionen sowie bedächtigen Momenten des Zen eine Art Zatoichi-Erbe lebendig werden lässt, schickt der Regisseur immer wieder markante Gesichter wie Laurence Fishburne, Ian McShane, Clancy Brown oder Lance Reddick vor die Linse, wenn die Action mal ausnahmsweise eine Pause braucht. Shanier Anderson wandelt gemeinsam mit seinem Hund als jugendliches Alter Ego Wicks mit großen Augen durch diese Welt und versprüht unter all den Dinosauriern einen Hauch erfrischende Naivität. Und wenn das Drehmoment wieder ansteigen soll, ist ja immer noch Scott Adkins da. Der hat offenbar mächtig Freude mit seinem Fat Suit und zollt den körperlichen Abnormitäten Tribut, die in so manchem Hongkong-Streifen als Gegner der eher schmächtigen Helden in Erscheinung traten. Eine Art böser Zwilling von Sammo Hung, ein E.Honda, so grotesk übersteigert, dass man in dem überheblichen Lachen sogar eine Comicfigur wie den Violator aus „Spawn“ zu erkennen meint. Bill Skarsgård fährt als aalglatter Connaisseur gehobener Künste bewusst auf der Klischee-Schiene des Chairman, der sich seine Finger nicht schmutzig machen will und hinter der Maske des Anstands mit fiesen Tricks operiert, was im Kontext der Thematik selbstverständlich ganz besonders nach süßem Karma verlangt. Skarsgård ist für diesen Job der richtige Mann zur richtigen Zeit, spielt er das Spiel der Beherrschung doch so überzeugend, dass die kurzen Momente des Kontrollverlusts um so deutlicher den Pennywise in den Augen aufblitzen lassen. Ein weiterer Glitch in einer Kulisse der Perfektion, voller Kunstwerke, meisterhafter Architektur und edler Backwaren.
Gerade weil „John Wick: Kapitel 4“ aus kaum mehr als markanten Darstellern, memorablen Set Pieces und spektakulären Fights besteht, ist es so erstaunlich, dass er sich unter dem Strich als bis dato beste Fortsetzung empfiehlt, wo gerade Teil 3 unter klaren Ermüdungserscheinungen zu kämpfen hatte. Müde wirkt auch Keanu Reeves in seiner neuesten Paraderolle. Jede Bewegung schmerzt in dieser Sisyphus-Sage, die schließlich bei Sonnenaufgang auf einem Gipfel endet. Die Laufzeit ist lang, seeeehr lang, und ganz sicher rechtfertigt sie sich nicht durch einen wie auch immer gearteten Inhalt. Chad Stahelski, der als Architekt sein eigenes Universum immer weiter ausbaut, zeigt im Detail einige Schwächen, die sich High-End-Actionfeuerwerke wie „Mission Impossible: Fallout“ nicht erlaubten (leicht zu überprüfen dank sich überschneidender Schauplätze). Man tut aber einen Teufel, sich über diese Punkte zu beschweren. Lieber schwelgt man in den langen Choreografien, die man aus allen möglichen Perspektiven in langen Kamerafahrten gemeinsam mit der Kulisse genießt, man verliert sich im Licht von tausend Kerzen und im Meer künstlichen Neonlichts, immer wissend, dass man da einer Illusion ohne echten Inhalt aufsitzt. Und doch wünscht man sich, der Weg durch Gegnerhorden möge niemals enden.
© Sascha Ganser (Vince)
Der Film ist ab dem 23. März 2023 in den deutschen Kinos zu sehen. Den Verleih hat Leonine übernommen und für den ungeschnittenen Streifen eine FSK 18 Freigabe erwirkt.
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Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love
Copyright aller Filmbilder/Label: LEONINE__Freigabe: FSK 18__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Nein/Nein, ab 23. März im Kino |